Iqra – ein Appell für mehr Bildung
"O mein Herr, mehre mein Wissen.” (20:114).
“Sprich: "Sind die Wissenden den Unwissenden gleich?" Nur die Menschen, welche “verstehen” denken nach und lassen sich ermahnen.” (39:9).
Was bedeutet es aber gemäß der Frage aus dem obigen Vers, “unwissend” zu sein und was es nach islamischem Verständnis bedeutet “zu verstehen”, gebildet zu sein? Menschen, die keinen Wert auf Bildung legen, leben nach dem Koran ein Leben voller “Wunschvorstellungen und Mutmaßungen” (vgl. 2:78). Für uns bedeutet dies, dass wir ohne Bildung unsere Ziele nicht erreichen und zu Vermutungen, Skepsis, Nachrede, Misstrauen, Argwohn und Zweifel neigen.
Diejenigen, die immun gegenüber Belehrungen, Erkenntnissen und Einsichten sind, werden als taub, stumm und blind bezeichnet. Diese werden in der Finsternis zurück gelassen (vgl. 2:18,19).
Wissen, Erkenntnis und Einsicht sind somit für den/die Muslim/a ein Weg aus der Finsternis, die ihn/sie vor schlechten Charaktereigenschaften schützt.
Gemäß islamischer Schöpfungsgeschichte lehrte Gott Adam die Namen der Dinge (2:31). Selbst die Engel wissen im Gegensatz zum Menschen nur das, was sie Gott wissen lässt. Der Mensch ist jedoch lernfähig. Beruhend auf dieser Tatsache lässt Gott die Engel sich vor dem Menschen verneigen. Dies zeugt von der Verwurzelung der Bildsamkeit des Menschen in seinen Ursprüngen.
Schon die ersten geoffenbarten Verse an den Propheten Muhammed (Friede und Segen auf ihn, i. W. sa.) lassen den Bildungsanspruch Gottes an den Menschen erkennen. Sie stellen nicht nur einen Aufruf zur Bildung dar, sondern zeigen auch den Stellenwert der Bildung bei Gott und setzen Bildung für ihr Verständnis voraus.
Der Prophet war mit der Gesellschaft seiner Zeit unzufrieden und zog sich für eine immer längere Dauer zum meditativen Nachdenken, dem Tafakkur, in eine Höhle zurück. Dort erhielt er nach einer Weile die erste Offenbarung. Selbst wenn nach islamischem Verständnis Muhammed (sa.) das Prophetentum vorherbestimmt war, zeigt uns sein Beispiel, dass es für wahre Erkenntnis, innigen Nachdenkens und Reflexion bedarf. Die Verse, die er dabei erhielt, enthalten dabei eine Methodik des Lernens. Um dies besser zu verstehen, werden wir die entsprechenden Verse einer genaueren Betrachtung unterziehen:
“Lies, im Namen deines Herrn, Der alles erschaffen hat!” (96:1) - Schon das erste Wort nimmt Bezug auf die eingangs erwähnte Bildsamkeit des Menschen. Dabei wird der arabische Imperativ “iqra” oftmals mit “lies” übersetzt. Leider fangen hier auch schon die ersten Uneinigkeiten über die Deutung des Korans an. Manch ein Experte würde hier Einspruch einlegen und als korrekte Übersetzung von “iqra” “Trage vor”, “Verlese” aufführen. Da aber in unserem Fall für den Vortrag ein Studium, also das Lesen des Textes notwendig ist, ist dieser kleine Unterschied nicht relevant. Es soll hier auch auf den Vers 96:4 hingewiesen werden, indem auf das Schreiben Bezug genommen wird und auf den wir später noch weiter eingehen werden. Der Appell zur Bildung ist dadurch im Gesamtkontext, wie wir noch sehen werden, erkennbar. Mit “iqra” ist der Muslim dazu aufgefordert zu lesen, lernen und das Erlernte anderen “vorzutragen”, d. h. zu lehren.
Vielleicht gehören Mehrdeutigkeiten, die zu Kontroversen führen und in der islamischen Welt leider schon für sehr viel Unheil gesorgt haben, zu den Wundern des Korans. Genauso wie die Annahme, dass der Koran zeitlos ist, ist denkbar, dass diese Mehrdeutigkeit im Koran in verschiedenen Situationen, bei verschiedenen Personen zu einer bereichernden Erkenntnis führen kann.
Weiter heißt es im Vers “... im Namen deines Herrn, Der alles (aufgrund seiner Barmherzigkeit) erschaffen hat!”. Der Akt des Lernens beginnt, wie so vieles im Islam, mit der klaren Absicht, etwas im Namen Gottes zu tun. Etwas ”im Namen” von jemandem zu tun verlangt von einem ab, dies im Stile des Auftraggebers zu machen. Selbst das Lernen bedarf also ein Gedenken an Gott, eine Reflexion der Erkenntnis in Seinem Lichte. Und dies setzt in erster Linie Barmherzigkeit und Güte voraus und verankert somit ethische Aspekte innerhalb der Bildung. Eine Wissenschaft ohne ethische Grundsätze ist auch in der heutigen, nicht-islamischen Welt undenkbar.
“Er erschuf den Menschen aus einem Blutklumpen.” (96:2) - Zu Zeiten Muhammeds (sa.) wusste man wohl nicht sehr viel mit diesem Vers anzufangen. Doch der ständige Fortschritt in der Technologie und Wissenschaft, der durch Bildung erreicht wird, gibt uns heute ein anderes Verständnis über diesen Vers. Die Beschreibung als “Blutklumpen” erscheint uns durch unsere aktuelle Erkenntnis nicht abwegig. Es bedarf also einem bestimmten Wissen für das Verständnis des Korans. Wissenschaftlicher Fortschritt kann dementsprechend zu neuen Erkenntnissen beim Verständnis des Korans beitragen.
“Lies; denn dein Herr ist Allgütig.” (96:3) - Durch das Stilmittel der Wiederholung wird hier die Aufforderung untermauert und wohlmöglich durch den Hinweis auf die Güte Gottes ein Lohn für den Menschen in Aussicht gestellt. Der wiederholte Hinweis auf die Güte Gottes dient auch hier zur Orientierung, wie etwas im Namen Gottes getan werden sollte.
“Der das Schreiben mit dem Schreibrohr lehrte.” (96:4) - Hier wird nach dem Lesen das zweite wichtige Element des Lernens und Lehrens, das Schreiben aufgeführt. Es ist eine Fähigkeit, die dem Menschen aufgrund der Güte Gottes zuteil kam und so wichtig zu sein scheint, dass sie zu Beginn der Offenbarung genannt wird. Die Frage inwieweit Muslime unserer Zeit diese gottgegebene Fähigkeit nutzen sollte jeder Muslim für sich selbst beantworten.
“Den Menschen lehrte, was er nicht wusste.” (96:5) - Gott machte den Menschen bildsam und offenbarte ihm Wissen, welches der Mensch aus eigener Vorstellungskraft nicht hätte wissen können.
Setzt man diesen Vers in Bezug auf den vorherigen, kann man daraus erschließen, dass das Schreiben, als die schriftliche Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, zu einer Erweiterung der Erkenntnis führen kann. Durch den Transfer und die Neustrukturierung des Wissens erlangen die Leser die Kompetenz, das Gelesene und ihre Umwelt zu werten und neue Ideen auf Grundlage des Gegenstandes zu entwickeln. Dies ist eine der erstrebenswertesten Kompetenzen heutiger Schulbildung.
“Hast du den gesehen, der da einem Gottesdiener das Beten verbietet?” (96:9,10) - Dieser Vers besitzt einen interessanten Aspekt. Noch bevor im Koran das Gebet zur Erwähnung kommt, wird an dieser Stelle von jenen gesprochen, die vom Gebet abhalten. Der Vers scheint auf den ersten Blick keinen Bezug zu den vorherigen zu haben. Dies ist im Koran oft der Fall. Gehen wir jedoch von der Annahme aus, dass das Streben nach Wissen im Namen Gottes bei Gott den Stellenwert des Gebetes haben könnte, ergeben diese Verse einen kontextuellen Zusammenhang. In den Hadithen finden sich Hinweise, die diese These stützen. Denn der Prophet sagte: "Das Streben nach Wissen ist eine Pflicht für jeden Muslim, Mann oder Frau”. Und solange er dies tut, ist er “... bis zu seiner Rückkehr auf die dem Pfade Gottes“. (Tirmidhî, ilim 2, 2650)
In diesem Vers kommt ein Weiteres, im Koran häufig verwendetes Stilmittel zum Einsatz. Die rhetorische Frage. Diese Frage dient dazu den Leser direkt anzusprechen und ihn zum Nachdenken anzuregen. Häufig wird auch im Koran, wenn über die Gaben Allahs gesprochen wird, die Frage gestellt “denkt ihr denn nicht darüber nach?”. Ein weiteres Element der menschlichen Bildsamkeit ist somit die Reflexionsfähigkeit. Reflexion hilft uns, uns und unsere Umwelt besser zu verstehen. Im Falle des Korans bedeutet Reflexionsfähigkeit das Vermögen, Gesehenes und Erlebtes kritisch zu hinterfragen und dieses daraufhin zu überprüfen, ob sie der Aussage des Korans standhalten und ob sie für die Sache Gottes, für uns und die ganze Menschheit von Vorteil sind und welche Konsequenzen wir daraus ziehen - kurz gesagt zu “verstehen”. Für diejenigen, die “verstehen” sind nach dem Koran Naturereignisse und -phänomene “Zeichen” für die Allmacht Gottes”. Der Koran beschreibt diesen Umstand so: “... “Diejenigen aber, die über tiefgreifendes, fundiertes Wissen verfügen, sagen: "Wir glauben wahrlich daran. Alles ist von unserem Herrn." - und niemand beherzigt es, außer den mit Verständnis Begabten.“ (3:7).
Oftmals hört man von Wissenschaftlern die zum Glauben gefunden haben, dass sie die Grenzen ihrer Wissenschaft und die Ausgeklügeltheit der Schöpfung verstanden haben. Diese Tatsache beschreibt der deutsche Physiker Werner Heisenberg (1901-1976) wie folgt:
“Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.”
Der Koran zeigt uns am Beispiel Mose, wie wir zu diesem tiefgreifenden und fundierten Wissen kommen können. Denn darin heißt es:
”Als er die Reife erlangt hatte und ausgewachsen war, gaben Wir ihm Urteilskraft und Wissen. So belohnen Wir die Rechtschaffenen, die gute Werke vollbringen.” (28:14)
Karitatives Handeln hilft uns somit unser Wissen zu erweitern.
Der Koran beginnt demnach mit einem Appell zum Lernen und beantwortet dabei auch die Frage des “Wie?”. Durch die Absicht - Lesen- Vortragen- Schreiben - Reflektieren - karitatives Handeln.
So ist es nicht verwunderlich, dass es Epochen gab, in denen muslimische Wissenschaftler zu den führenden ihrer Zeit zählten und Erkenntnisse und Erfindungen hervorbrachten, die heute noch unseren Alltag prägen. Dies geschah in einer Zeit, in der die Toleranz der Religionen untereinander in Europa und im Mittleren Osten ihren Höhepunkt fand. Wir sind der festen Ansicht, dass in Deutschland ein Klima herrscht, in dem die islamische Gelehrsamkeit neu definiert werden kann.
Auch wenn wir in schwierigen Zeiten leben, so leben Muslime in Deutschland in einem Klima der Toleranz und ihnen stehen sämtliche Bildungswege offen.
Dies ist ein Appell an die muslimische Jugend in Deutschland sich der Bildung zu widmen, sich den Problemen dieser Gesellschaft zu stellen und sich positiv einzubringen um somit den Stellenwert des Islams in der Gesellschaft zu verbessern. Denn Bildung ist nach koranischem Verständnis nicht nur ein Mittel zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit, um seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, sondern auch ein Weg zu einem besseren Verständnis zu Gott und seiner Schöpfung. So schauen wir mit Zuversicht auf die gemeinsame Zukunft unseres Landes!
Ersen Karabulut
Pädagoge/ Gründungsmitglied Muslimisches Jugendwerk e. V.